Weihnachtspredigt über Joh 1,1–5.9–14(16–18)

gehalten in der Lutherkirche Speldorf am 25.12.2024 1

Liebe Gemeinde,

vor fünf Tagen der Anschlag in Magdeburg. Fünf Tote, über zweihundert Verletzte. Soweit ich die Nachrichten richtig lese, ist die Motivlage des Täters noch unklar, was aber feststeht: Ein Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt nimmt auch das Fest in den Blick, wofür diese weihnachtliche Tradition steht: Weihnachten mit Freunden, Familie, Kolleginnen und Kollegen zu feiern. In Magdeburg wurde der Weihnachtsmarkt abgesagt, für die Opfer des Anschlages und ihre Familien fällt Weihnachten in der gewohnten Form aus. Aber nicht nur hier wird das Fest der Liebe in Frage gestellt, in der Ukraine geht der russische Angriffskrieg nun über 1000 Tage, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. In Gaza und Israel sterben weiterhin Menschen und verlieren ihre Häuser, die Geiseln sind noch immer in Gefangenschaft. Und es gibt Konflikte, von denen man fast nichts hört wie der Bürgerkrieg im Sudan, wo aber Tausende Menschen sterben.

Sehen wir auf die Welt, so gibt es eigentlich keinen Grund, Weihnachten zu feiern – oder vielleicht muss man beim Blick auf die Weltlage sagen: Wir brauchen Weihnachten nötiger denn je.

Die Frage ist, wie blicken wir auf die Welt und wie erklären wir sie uns. Welche Perspektiven gibt es, um das Weltgeschehen zu verstehen?

Ludwig Wittgenstein, einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, schrieb 1918 seinen Tractatus Logico-Philosophicus. Dieses Werk ist sein Versuch, die Welt zu erklären, ein Versuch, die Struktur der Welt zu analysieren und sie in logische Kategorien zu fassen. Doch Wittgenstein erkennt am Ende des Tactatus die Grenzen eines solchen Vorhabens. Sein Werk endet mit dem berühmten Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“

Dieser Satz drückt aus, dass es Dinge gibt, die sich unserer Sprache entziehen, dass es Dimensionen des Lebens und der Welt gibt, die wir nicht erklären, sondern nur erahnen können. Wo Worte versagen, bleibt dem Menschen nur ein Schweigen – besonders, wenn es um den Ursprung unseres Seins und der Welt geht. Mystik beschreibt genau dieses Gespür für das Unfassbare, das Geheimnisvolle, das sich zeigt, wenn wir an die Grenzen unseres Verstehens gelangen.

Um eine solche mystische Dimension und eine kosmologische Perspektive geht es auch im heutigen Predigttext. Das erste Kapitel des Johannesevangeliums, der sogenannte Johannesprolog gibt dem, was wir zu Weihnachten feiern, der Geburt Jesu, eine tiefgehende mystische und kosmologische Dimension.

Hören wir nun den Predigttext aus Johannes 1,1–5.9–14(16–18):



1 Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. 2 Dasselbe war im Anfang bei Gott. 3 Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. 4 In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. 5 Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.

6 Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hieß Johannes. 7 Der kam zum Zeugnis, damit er von dem Licht zeuge, auf dass alle durch ihn glaubten. 8 Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht.

9 Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. 10 Es war in der Welt (κόσμος), und die Welt ist durch dasselbe gemacht; und die Welt erkannte es nicht. 11 Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. 12 Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden: denen, die an seinen Namen glauben, 13 die nicht aus menschlichem Geblüt noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind.

14 Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.

15 Johannes zeugt von ihm und ruft: Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Nach mir wird kommen, der vor mir gewesen ist; denn er war eher als ich.

16 Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. 17 Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden. 18 Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat es verkündigt.



Die Verfasser der Evangelien präsentieren die Geburt und den Lebensweg Jesu auf ganz unterschiedliche Weise, um sie als Markstein in der Weltgeschichte zu verankern. Das Matthäusevangelium stellt Jesus als Nachkommen Abrahams vor und zeigt seine Einbindung in den königlichen Stamm Davids. Jesus ist ein Nachfahre des Königs David, daher gehört ihm die Autorität. Das Lukasevangelium verortet die Geburt Jesu in der Weltgeschichte, indem es sie in Bezug zum römischen Kaiser Augustus und seiner Volkszählung setzt. Gleichzeitig wird die übernatürliche Dimension sichtbar: Ein Stern, der den Weg zu Jesus weist, denn nur so finden die drei Weisen das Kind in der Krippe und himmlische Engel, die die Weihnachtsbotschaft verkünden – der ganze Kosmos versammelt sich rund um einen Viehtrog in einem Stall, in dem ein Neugeborenes liegt.



Johannes erzählt uns die Weihnachtsgeschichte auf eine mystische Weise und hebt die Geburt Jesu in eine kosmologische Dimension. Der Evangelist Johannes geht noch weiter zurück. Er verortet die Geburt und den Lebensweg Jesu nicht nur in der Geschichte, sondern vor aller Zeit. Jesus von Nazareth, der Mann und der auferstandene Christus, wird im Johannesprolog mit dem Logos, der schöpferischen und kosmischen Dynamik der Schöpfung, identifiziert.



Während beim Philosophen Wittgenstein Worte an ihre Grenzen stoßen, wählt das Johannes-Evangelium eine andere Perspektive, Gott selbst wird als das Wort (λόγος) identifiziert, so heißt es:

und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“

Gott ist das Wort – oder wie man Logos auch übersetzen kann: Geist, Verstand. Und dieser Geist Gottes, das göttliche Wort, wird Mensch, in der Sprache des Johannes: Fleisch, ein Mensch mit Leib und Körper. Der Schöpfer wird zum Geschöpf, Gott wird Mensch.

Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.

Gott wird Mensch, so kommt Gott zu uns, „wohnte unter uns“ in der Sprache des Johannes-Evangeliums.

Der Johannesprolog bietet eine neue Perspektive auf das Kommen Jesu in die Welt. Der Mensch Jesus wird hier nicht einfach als Sohn Gottes geboren, sondern er verkörpert – „das Wort ward Fleisch“ – im buchstäblichen Sinn das Wort Gottes selbst. Dieses Wort ist keine abstrakte Idee, sondern eine neue, leuchtende Wirklichkeit, die in die Welt hineintritt, das göttliche Wort wird das Licht der Menschen.

Diese Wirklichkeit findet ihren Ausdruck in den Begriffen Wahrheit und Gnade, die nicht nur Eigenschaften Gottes sind, sondern auch Grundpfeiler seines Handelns. Eingefasst in den Glanz der „Herrlichkeit“, wie Johannes es nennt, verweist diese Wirklichkeit auf eine göttliche Gegenwart, die Licht und Hoffnung in die Dunkelheit bringt.

In dieser Perspektive kann der Johannesprolog als ein Kommentar zur Schöpfungsgeschichte aus der Genesis verstanden werden. Wie in der Schöpfungsgeschichte am Anfang das Wort Gottes Ordnung und Leben in die Welt bringt, so lässt sich auch die Geburt Jesu sehen. Die Welt wird erneut als ein Ort göttlicher Ordnung und Liebe dargestellt. Doch in der Geburt Jesu zeigt sich noch etwas mehr: ein Liebesbeweis Gottes an eine Welt, die diese Liebe oft nicht erkennt oder gar zurückweist und lieber in Dunkelheit bleibt. Gerade in dieser Spannung zwischen göttlicher Liebe und Licht einerseits und andererseits menschlicher Ablehnung und Dunkelheit spielt sich das Leben ab:

Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.

Lassen wir uns auf das Licht ein oder wollen wir in der Finsternis bleiben. Für uns – bzw. für die Menschen, für die der Evangelist Johannes schreibt – stellt bzw. stellte sich die Frage: Lassen wir uns auf die neue Perspektive, die neue Weltsicht ein, dass Gott in dieser Welt ist und handelt, oder in der Sprache des Johannes:

Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden: denen, die an seinen Namen glauben,

Oder verharren wir in der Ablehnung und bleiben ohne das Licht:

die Welt erkannte es nicht. Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf.



So wie Worte in Menschen wohnen, so hat Gott in der Welt seine Wohnung in der Gestalt Jesu Christi genommen. Er hat sich verständlich gemacht, er hat sich gezeigt. Aber er hat sich auch angreifbar gemacht, denn Worte können völlig unterschiedlich verstanden werden, können Missverständnisse auslösen.



In Jesus Christus hat Gott nicht nur Worte gesprochen, sondern ist selbst das Wort geworden – das Wort, das lebt, das Licht, das leuchtet, und die Gnade, die trägt. Er hat die ganze schillernde Natur eines jeden Menschenwesens auf sich genommen, unsere Stärken wie unsere Schwächen. Er hat sich in unsere Welt hineinbegeben, um uns nah zu sein, er ist einer von uns geworden. So erzählt Johannes, wie Gott Mensch wurde, denn Gott lässt seine Schöpfung nicht allein, er macht sie neu durch sein Wort.

So die Weihnachtsgeschichte in den abstrakten Worten des Johannes-Evangeliums.

Gibt es nun einen Grund, Weihnachten zu feiern? Johannes würde sagen: Ja! Die Welt ist bereits neu gemacht durch das göttliche Wort – auch wenn wir es noch nicht sehen können. Gott ist in die Welt gekommen und wird alles zum Guten wenden. Das ist die Perspektive, aus der der Verfasser des Johannes-Evangeliums in die Welt blickt. Auch, wenn wir es noch nicht sehen können.

Dass Gott die Welt nicht sich selbst überlässt, sondern er alles zum Guten wenden wird, das ist die Hoffnung, die Weihnachten uns gibt. Auch wenn es noch nicht sichtbar ist.



Erlauben Sie mir, dass ich am Ende der Predigt persönlich werde. So wie ich den Johannesprolog verstehe, geht es um die Perspektive, aus der wir auf unsere Welt blicken. Bleiben wir in der Dunkelheit, oder wechseln wir unsere Perspektive und blicken vom Licht her auf die Welt?

Dieses Jahr mussten wir meine Mutter begraben, und es stellte sich für uns die Frage, wie wir dieses Jahr Weihnachten feiern würden, wenn mein Vater erstmals am Heiligabend allein sein würde. Würde er zu uns kommen wollen, oder würden wir zu ihm fahren? Würde er überhaupt Weihnachten feiern wollen? Könnte er überhaupt das Kerzenlicht am Tannenbaum ertragen, oder würde er in der Dunkelheit der Trauer verharren? Während wir noch überlegten, hatte er bereits Tatsachen geschaffen, indem er andere Alleinstehende zu sich an Heiligabend einlud und uns sagte, wir sollten wie sonst auch am zweiten Weihnachtstag zu ihm kommen. Das Weihnachtsfest half ihm bei einem Perspektivwechsel: Statt den Verlust, die Lücke in seinem Leben zu sehen, veränderte er seinen Blick und sah, wie er nun als Alleinstehender mit anderen Alleinstehenden gemeinsam feiern könnte.

Wenn wir auf unser Leben und unsere Welt blicken, gibt es sehr viele Gründe, warum wir eigentlich Weihnachten nicht feiern können. Aber vielleicht gibt uns Gott die Kraft, unsere Perspektive zu ändern, sodass wir Weihnachten feiern und so Gottes Licht in unser Leben und unsere Welt bringen.

Amen.

1Benutzte und ohne weitere Angaben zitierte Literatur für die Vorbereitung:
Christfest I Joh 1,1–5.9–14(16–18), Haberer Johanna, Göttinger Predigtmeditationen 2024 79:4, 49-54

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