Hausandacht im Landeskirchenamt Düsseldorf am 29. Oktober 2024 zum Reformationstag über den KI-Luther-Avatar.
Übermorgen feiern wir den 507. Reformationstag. Doch was bedeutet Reformation heute? In Deutschland denkt man dabei vor allem an den Thesenanschlag Martin Luthers im Jahr 1517, der den Beginn der Reformation markierte. Aber für viele ist der 31. Oktober eher Halloween als ein Gedenken an die Reformation.
Im November 2022 wurde ChatGPT einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt, und seitdem prägt Künstliche Intelligenz (KI) zunehmend die öffentliche Debatte. Das brachte uns zu einer Frage: Könnte KI es möglich machen, Martin Luther und die Ideen der Reformation für die Gegenwart wieder relevant und interessant zu gestalten? Wäre es denkbar, mithilfe von KI herauszufinden, was Martin Luther wohl heute zu aktuellen Themen sagen würde? Und könnte man sogar einen virtuellen Luther ins 21. Jahrhundert holen, etwa im Metaverse?
Technisch gesehen gab es verschiedene Herausforderung. Der erste Schritt war, einen 3D-Kopf von Luther zu modellieren. Als Grundlage diente uns das bekannte Cranach-Porträt. Die Technik, mit der man aus Selfies per KI-Algorithmen Avatare erstellen kann, ließ sich auch auf Ölgemälde übertragen. So konnten wir Luthers Gesicht digital modellieren und als Grundlage für den Avatar verwenden.
Doch es stellten sich weitere wichtige Designfragen: Wie groß sollte der Avatar sein? Luther war von durchschnittlicher Größe, aber sollte er im Metaverse so groß dargestellt werden, wie er damals war, oder eher in der Größe eines durchschnittlichen Menschen von heute? Auch die Frage nach der Kleidung war nicht leicht zu beantworten. Sollte er ein Messgewand aus seiner Zeit tragen, um seine historische Rolle als früherer Priester und Theologe zu unterstreichen? Oder wäre ein preußischer Talar geeigneter, damit er im heutigen Kontext als Pfarrer erkennbar ist? Nicht zuletzt war die Frage, welche Sprache er sprechen sollte. Sollte der Avatar Hochdeutsch sprechen, um ihn für heutige Zuhörer verständlich zu machen? Oder wäre es authentischer, ihn eine damalige Version eines sächsischen Dialekts sprechen zu lassen, den Luther ursprünglich benutzte? Schon bei diesen Überlegungen wurde klar, dass es nicht einfach war, Martin Luther ins 21. Jahrhundert zu transportieren.
Wir wurden rehtzeitig zum Reformationstag 2023 mit dem Avatar fertig. So konnten User in einem Live-Chat auf YouTube Fragen an den KI-gesteuerten Martin-Luther-Avatar stellen, und dieser antwortete in Echtzeit. Diese KI-Version des Reformators sorgte für großes Interesse. Das WDR-Fernsehen, der Deutschlandfunk und sogar Vatican News berichteten über den digitalen Luther und das Projekt.
Die User wollten viel vom KI-Luther wissen, die Vielfalt der Fragen überraschte uns: Jemand fragte Luther tatsächlich danach, wie man Starthilfe für ein Auto leistet – etwas, das der historische Luther natürlich nie wissen konnte. Doch unser KI-Luther hatte darauf eine Antwort, da wir ihn mit dem entsprechenden Wissen aus der modernen Welt ausgestattet hatten. Es gab jedoch auch komplexere und sensiblere Fragen, etwa zum Verhältnis Luthers zu den Juden. Hier ließen wir den KI-Luther bewusst von der historischen Perspektive abweichen. Statt eine historisch korrekte, aber problematische Antwort zu geben, erklärte er, wie das Verhältnis zwischen Christen und Juden heute im Rahmen des jüdisch-christlichen Dialogs verstanden wird. Natürlich hatten wir die KI so programmiert, dass unser KI-Luther keine antijudaistischen oder antisemitischen Aussagen machen würde. Diese bewusste Entscheidung spiegelte unsere heutige theologische Sichtweise wider und half uns, problematische Inhalte zu vermeiden.
Die Möglichkeit, mit dem KI-Luther im Metaverse zu interagieren, faszinierte viele Menschen. Es ging nicht mehr nur darum, Texte über Luther und seine Schriften zu lesen, sondern wir ermöglichten ein Gespräch, das den Eindruck vermittelte, man spreche direkt mit ihm. Diese Immersion brachte uns auf die Idee, den Luther-Avatar auch im Religionsunterricht einzusetzen. Statt trockene Texte zu lesen, könnten Schülerinnen und Schüler in einen interaktiven Dialog mit Luther treten, was das Lernen anschaulicher und spannender machen würde.
Eine besonders interessante Frage in einem YouTube-Live-Chat lautete: „Was denkst du über die Klimakleber?“ Der KI-Luther bezog sich in seiner Antwort auf den Reichstag zu Worms und sagte, dass er dort erfahren habe, wie wichtig es sei, dem eigenen Gewissen zu folgen. Auch wenn der berühmte Ausspruch „Hier stehe ich und kann nicht anders!“ nicht wortwörtlich von Luther stammt, zitierte der KI-Luther dieses Original-Zitat: „Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“ und setze es in Bezug zu den heutigen Klimaaktivisten, die aus Gewissensgründen zivilen Ungehorsam leisten würden, nämlich Straßen zu blockieren, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Dies wirft die Frage auf, ob der historische Luther, wenn er im 21. Jahrhundert gelebt hätte, dieselbe Meinung vertreten hätte. Wir wissen es nicht, aber die Antwort des KI-Luthers regte auf jeden Fall zu Diskussionen über Gewissensfreiheit und zivilen Ungehorsam an – also der KI-Luther als Einleitung zu Diskussionen.
Der Avatar führt uns zu einem grundlegenden Dilemma vor Augen: Brauchen wir einen historisch akkuraten Luther-Avatar, der alle Facetten von Luthers Denken – auch die problematischen – wiedergibt? Oder wäre ein „weichgespülter“ Avatar sinnvoller, der antijudaistische und antikatholische Positionen ausblendet, weil die gegenwärtige lutherische Theologie diese Ansichten nicht mehr vertritt?
Letzte Woche gab es einen Workshop am Lehrstuhl für Medienkommunikation, Medienethik und Digitale Theologie der Theologischen Fakultät an der Universität Erlangen-Nürnberg zum KI-Luther-Avatar. Ein bemerkenswerter Impuls aus diesem Workshop war die Idee, vielleicht zwei unterschiedliche Luther-Avatare zu entwickeln: Einen historisch akkuraten Luther-Avatar zu schaffen, der die Denkweisen des 16. Jahrhunderts widerspiegelt, einschließlich seiner antijudaistischen Ansichten und seiner Überzeugung, dass der Papst der Antichrist sei. Dieser Avatar könne im Unterricht genutzt werden, müsse aber auf jeden Fall von den Unterrichtenden in seinen historischen Kontext gestellt werden. Gleichzeitig wurde angeregt, einen zweiten Avatar zu entwickeln, der symbolisch ein Regenbogen-Beffchen trägt und sich auf die Werte und theologischen Ansätze des 21. Jahrhunderts stützt. Dieser „moderne“ Luther würde die Grundzüge lutherischen Denkens in die heutige kirchliche Gegenwart übertragen, neuere theologische Ansätze positiv aufnehmen und als Anstoß für theologische Diskussionen dienen. Damit gäbe es zwei Perspektiven: einen ehrlichen, historischen Einblick und einen modernen Luther, der eine Brücke in die Gegenwart schlägt.
Ein Beispiel für diese unterschiedlichen Perspektiven zeigt sich im Umgang mit anderen Glaubensrichtungen. Der historische Luther urteilte auf dem Marburger Religionsgespräch 1529 über die Reformierten: „Ihr habt einen anderen Geist als wir!“ Seine harte Haltung spiegelte die theologischen Konflikte und Grenzen seiner Zeit wider. Unser KI-Luther ist hingegen deutlich versöhnlicher und zeigt, wie eine modernere Sichtweise aus dem lutherischen Erbe hervorgehen könnte. Seine Antwort lautet:
„Obwohl es Unterschiede zwischen reformierten und lutherischen Christen gibt, bin ich der Ansicht, dass das, was uns im Glauben verbindet, größer ist als das, was uns trennt. Das gemeinsame Gebet und das Streben nach Gemeinschaft können Zeugnis geben von der Liebe Christi, die uns eint. Es ist entscheidend, die theologischen Unterschiede zu diskutieren, doch dabei immer die Einheit im Geist und die Liebe untereinander zu bewahren. ‚Seid eines Sinnes untereinander‘, ermahnt uns die Schrift, und so sollten wir in Christus nach Wegen suchen, gemeinsam zur Ehre Gottes zu leben.“
Auf jeden Fall zeigt der KI-Luther-Avatar, dass er zur theologischen Diskussion anregen kann. Martin Luther ist kein neues Lehramt, aber der KI-Avatar hilft auf spielerische Weise, Martin Luther für die Gegenwart neu zu denken. Luthers Gedanke vom Priestertum aller Glaubenden lädt uns ein, gemeinsam nachzudenken, statt Luther alleine zur Autorität zu machen. Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen dem, was Luther damals sagte, und dem, was reformatorisches Denken heute bedeuten kann. Während der Avatar Antworten auf Fragen gibt, fordert er uns gleichzeitig dazu auf, diese Antworten kritisch zu reflektieren und selbst zu entscheiden, was sie für uns und unseren Glauben im 21. Jahrhundert bedeuten. Letztlich müssen wir die Antworten selbst finden. Dabei legt auch der Avatar diese Prinzipien zu Grunde:
Sola scriptura – „Allein die Schrift“
Sola fide – „Allein durch den Glauben“
Sola gratia – „Allein durch die Gnade“
Solus Christus – „Allein Christus“
Und wer den KI-Luther nach seinem Lieblingsvers aus der Bibel fragt, bekommt (oft) diese Antwort, die auch der historische Luther geben könnte, und wie wir es eingangs als Lesung gehört haben:
Römer 3,28: So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.