Predigt über Titus 3,4–7 am 1. Weihnachtstag 2025

gehalten am 25.12.2025 in der Lutherkirche in Mülheim-Speldorf

Liebe Gemeinde,

der für heute vorgeschlagene Predigttext steht im Titusbrief, Kapitel drei, die Verse vier bis sieben. Beim Titusbrief handelt es sich um ein Schreiben, das Paulus seinem Mitstreiter Titus mitgibt, damit er sich bei den Gemeinden auf Kreta ausweisen kann.

Der Abschnitt, der für die Predigt am heutigen 1. Weihnachtsfeiertag vorgeschlagen ist, scheint auf den ersten Blick keinen direkten Bezug zum Weihnachtsgeschehen zu haben. Er ist abstrakt, er wirkt eher allgemein – wie eine Zusammenfassung dessen, was christlichen Glauben ausmacht. Aber wenn wir tiefer einsteigen, werden wir sehen, welche Bezüge dieser Text zur Geburt Jesu hat und deshalb auch als Predigttext für Weihnachten ausgesucht wurde.

Der Predigttext

Titus 3,4–7
„Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig – nicht um der Werke willen, die wir in Gerechtigkeit getan hätten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben seien nach der Hoffnung auf ewiges Leben.“

Der Titusbrief als Auftragsschreiben

Der Titusbrief ist ein Mandatierungsschreiben. Paulus gibt ihn seinem engen Vertrauten Titus mit, den er nach Kreta entsendet, um dort wichtige Aufgaben zu erledigen. Den genauen Auftrag hat Paulus wohl mündlich ausführlich mit Titus besprochen. Angesichts erwartbarer Auseinandersetzungen benötigt Titus jedoch ein schriftliches Dokument, mit dem er sich ausweisen kann. Vermutlich hat Titus deshalb Paulus gebeten, ihm schriftlich das Wesentliche mitzugeben, geben, was christlicher Glaube ausmacht. Das lässt sich auch knapp zusammenfassen. Der Umfang des Titusbriefes passt auf eine nicht allzu große Papyrusrolle, der Brief ist in nur drei Kapitel gegliedert und umfasst insgesamt sechsundvierzig Verse.

Titus scheint im Folgenden eine enge Bindung an Kreta entwickelt zu haben und blieb auf der Insel. Die frühkirchliche Tradition kennt in als Bischof von Kreta, als solcher wird er dort bis heute verehrt. Der Überlieferung nach ist er dort gegen Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus dann auf Kreta eines natürlichen Todes gestorben.

Herrschaft und göttliche Gnade

Die Insel Kreta ist in der Antike weltbekannt. Dem Mythos zufolge befindet sich dort die Geburtsstätte des Zeus, der in eine Grotte geboren wurde. Bis heute können auf Kreta unterschiedliche Höhlen besichtigt werden, die jeweils für sich beanspruchen, dieser Ort zu sein.

Die antiken Götter, so wie der Zeus des kretischen Mythos, waren – so das damalige Verständnis – Quellen der Gnade. Die römischen Kaiser – ebenso wie zuvor griechische Herrscher und Helden – wurden als Erscheinungen oder Werkzeuge dieser göttlicher Gnade gefeiert. Die Wohltaten, die sie ihren Untertanen erwiesen, bezeichnete man daher als „Gnade“: als Gaben der Götter von oben herab. Seit der Zeit des Augustus galten die Kaiser darüber hinaus selbst als göttliche Erscheinungen und als leibhaftige Verkörperung göttlicher Gnade unter den Menschen. So waren in der Antike göttliche Gnade und Macht der Herrscher eng miteinander verbunden.

Und natürlich kannten die Bewohnerinnen und Bewohner Kretas den Geburtsmythos des Herrschergottes nur zu gut, so dass sie die sprachlichen Anspielungen und Anleihen von Paulus direkt verstanden. Paulus nimmt das Gedankengut seiner Zeit auf und bedient sich einer Sprache, die in der imperialen, hellenistisch-römischen Welt in politischen Diskursen für Gottheiten und Helden, für Könige und für den Kaiser verwendet wurde. Worte wie Freundlichkeit, Menschenliebe und Barmherzigkeit gehörten zur Sprache der Herrschaft.

Die Vorstellung, dass Herrscher die Quelle göttlicher Gnade seien, findet sich ansatzweise auch noch in späteren Zeiten, so z.B. in den höfischen Anredeformen auch im mittelalterlichen Europa. So wurde „His Grace“ als Anredeformen für englische Könige bis zur Zeit Heinrichs des Achten und für schottische Monarchen sogar bis 1707 verwendet. Und auch aus Historien- oder Märchenfilmen sind uns noch veraltete Anredeformen wie „Ihro Gnaden“ bekannt. Sie ahmen eine Sprache nach, in der Macht und Gnade eng miteinander verschränkt sind.

Anspruch und Wirklichkeit der Macht

In dieser Denkweise erscheinen Herrscher als Ausfluss göttlicher Gnade. Ihre Wohltaten gelten als Gaben von oben, ihre Macht als göttlich legitimiert. Doch die Realität ist in der Regel eine andere. Herrscher unterdrücken ihre Völker, berufen sich auf einen göttlichen Auftrag und setzen ihre Herrschaft mit brutaler Macht durch. Das galt für die Antike – aber es gibt auch in der Gegenwart zahlreiche Anknüpfungspunkte.

Ich erwähne nur den amerikanischen Präsidenten, der sich selbst eher als absolutistischer König sieht denn als gewählter demokratischer Präsident, der mit Macht seine Positionen durchsetzt und dabei Mitmenschlichkeit aus dem Blick verliert.

Freundlichkeit und Menschenliebe werden von Herrschern für sich beansprucht, doch oft praktizieren sie nur Günstlingswirtschaft und kalte Machtausübung.

Jesu Geburt in Bethlehem als Gegenbild

Der auf Kreta geborene Zeus galt als der oberste Herrscher des Kosmos. Der Blitz war sein charakteristisches Werkzeug und zugleich das Symbol seiner Macht. Er war mächtige Waffe auf der Erde und im Himmel gefürchtet.

Der Geburt des Zeus in Kreta stellt Paulus eine andere Gotteserscheinung gegenüber. Er setzt ihr eine Erscheinung entgegen, die andernorts stattgefunden hat – nämlich die Menschwerdung Gottes in Bethlehem, die Geburt Jesu.

Dieses Sprachbild dürften die Bewohner Kretas unmittelbar verstanden haben. Was dort in Bethlehem geschah, hat auch für Kreta und seine Bewohnerinnen und Bewohner Geltung. Auch wenn Paulus die Ortsangabe Bethlehem nicht macht, denkt er sie mit und es hören die Kreter mit, wenn er schreibt.

„Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands“
ὅτε δὲ ἡ χρηστότης καὶ ἡ φιλανθρωπία ἐπεφάνη τοῦ σωτῆρος ἡμῶν θεοῦ

Im Griechischen benutzt Paulus das Wort Epiphanieἐπεφάνη. Dieser Begriff wurde in der hellenistischer Zeit verwendet, um Erscheinungen von Gottheiten zu bezeichnen. Also: nicht Zeus auf Kreta, sondern Jesus in Bethlehem; nicht mit Blitz und Macht, sondern unscheinbar in einer Krippe.

Gott kommt in die Welt – aber nicht als allmächtiger Herrscher, sondern als zerbrechliches Kind. In Bethlehem, ohne dass Paulus diesen Ort wörtlich nennen muss.

Gott kommt nicht mit Allmacht, sondern mit Ohnmacht in die Welt.

Und damit verändern sich auch die Herrscherattribute. Sie erhalten eine neue Bedeutung. Menschenfreundlichkeit und Gnadenerweise kommen nicht mehr von Gott über den Herrscher herab auf die Welt, der sie an seine Untertanen weitergibt. Sondern: Sie entfalten ihre wahre Bedeutung in der Zwischenmenschlichkeit – darin, wie Menschen einander begegnen, weil Gott uns direkt uns mit Freundlichkeit und Menschenliebe begegnet. Sie werden nicht mehr durch einen Herrscher vermittelt, sondern Freundlichkeit und Menschenliebe werden zu unserer Aufgabe, weil Gott sich in dieser Welt gezeigt hat.

Freundlichkeit und Menschenliebe als Maßstab für die Gesellschaft

„… durch die Erneuerung im Heiligen Geist, den Gott über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben seien nach der Hoffnung.“

Wir sind von Gott als Erbinnen und Erben eingesetzt. Als solche kommt es uns zu, uns so zu verhalten, wie es diesem Handeln Gottes entspricht: Freundlichkeit und Menschenliebe zu üben.

Was weltliche Herrscher oft missbrauchen und verkehren, wird hier neu gefüllt. Freundlichkeit und Menschenliebe sind keine Machtmittel mehr, keine Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen. Sie werden zu einer Aufgabe.

Dass Gott erschienen ist, verändert so unser Leben.
Das macht Weihnachten aus.
Das macht christlichen Glauben aus.

Und wenn sich Regierende auf das Christentum berufen, dann müssen sie sich auch an dieser Deutung von Freundlichkeit und Menschenliebe messen lassen.

Zu Beginn dieses Jahres erhielt die Predigt der amerikanischen Bischöfin Mariann Budde am Tag des Amtsantritts von Donald J. Trump als amerikanischer Präsident besondere Aufmerksamkeit, als sie ihn direkt ansprach:

„Ein Appell, Herr Präsident: Millionen Menschen setzen ihr Vertrauen in Sie. Sie erwähnten die schützende Hand Gottes. Ich bitte Sie, Erbarmen zu haben mit allen Menschen in unserem Land, die Angst haben. […] Ich bitte Sie, barmherzig zu sein mit jenen, deren Kinder fürchten, die Eltern würden abgeschoben. Denjenigen zu helfen, die aus Kriegsgebieten oder vor Verfolgung fliehen. […] Gott lehrt uns, Erbarmen zu haben.“

Die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes gilt aber nicht nur auf der anderen Seite des Atlantiks. Auch für Politik bei uns im Land sollte sie Maßstab sein, wenn wir über Altersversorgung, Bürgergeld oder Migration sprechen.

Politische Fragestellungen sind oft komplex. Aber es darf nicht vergessen werden, dass es immer um Menschen geht. Nicht Egoismus oder Gruppenegoismus, nicht das Recht des Stärkeren, sondern das Ringen um gerechte Lösungen. Oder, wie es Bischöfin Budde gesagt hat: Erbarmen haben mit den Schwächsten in unserer Gesellschaft.

In diesem Sinne ist die Weihnachtsbotschaft durchaus politisch, denn sie betrifft unser Gemeinwesen und unsere Gesellschaft. Aber sie berührt auch unser persönliches Leben.

Wiedergeburt als Geschenk

Dass Gott uns Menschen erschienen ist, ist ein Geschenk, das wir nicht verdient haben – und zugleich ein Geschenk, das uns verändert. Nicht nur Jesus wurde in Bethlehem geboren, auch wir werden neu geboren:

„[Gott] machte […] uns selig – nicht um der Werke willen, die wir in Gerechtigkeit getan hätten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt.“

Mit dem „Bad der Wiedergeburt“ meint Paulus die Taufe. In der Taufe spricht Gott jedem von uns zu: Du bist geliebt, so wie du bist. Dafür musst du nichts leisten. Wiedergeburt heißt, neu geboren zu werden, das Alte hinter sich zu lassen. Dieses neue Leben verändert uns, weil Gott selbst in die Welt gekommen ist.

„Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“
So sagen es die Engel in der Weihnachtsgeschichte des Lukas.

Dieser Heiland – σωτήρ – bringt Rettung. Er führt in eine Wiedergeburt, wie Paulus an Titus schreibt. Wiedergeburt heißt, das eigene Leben neu auszurichten und sich von der Weihnachtsgeschichte anstecken zu lassen.

Johann Scheffler, auch bekannt als Angelus Silesius, bringt diesen Gedanken in seinem Buch Cherubinischer Wandersmann von 1675 auf den Punkt:

„Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geborn
Und nicht in dir; du bleibst noch ewiglich verlorn.“

Gott wird nicht nur in Bethlehem als Mensch geboren, sondern auch in jedem von uns. So spiegelt sich die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, in unserem Leben wider.

Amen.

NB: Die exegetische Grundidee verdanke ich Traugott Roser, Gött. Predigtmed. 80, 50–57.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.