Lutherkirche Speldorf am Sonntag Reminiszere (25.2.2024)1
Die Welt, wie wir sie kennen, hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Wir sind mit einer Reihe von Krisen konfrontiert, die nicht nur unsere Gegenwart prägen, sondern auch unsere Zukunft entscheidend beeinflussen werden. Wo gehen wir hin?
Vor vier Jahren brach die Covid-Pandemie über uns herein, ein globale Gesundheitskrise, die jeden von uns betraf. Ein unsichtbarer Feind, der ohne Vorwarnung unser Leben veränderte und uns vor Herausforderungen stellte, für die es keine einfachen Lösungen gab.
Kaum war die Pandemie abgeklungen und wir versuchten uns an das New Normal anzupassen, wurden wir Zeugen eines weiteren erschütternden Ereignisses: dem Krieg in der Ukraine, ausgelöst durch Russlands Invasion. Ein Konflikt, mitten in Europa, der auch unsere Freiheit bedroht, wieder Tausende Flüchlinge in unser Land brachte und die geopolitische Landschaft verändert. Und seit Oktober letzten Jahres die Angriffe aus Gaza nach Israel und die israelische Gegenwehr, ein Krieg, der Frage aufwirft, wie weit seine Wellen schlagen werden.
Zurück in unserem Land, sehen wir uns mit innenpolitischer Krise konfrontiert: Bauern, die vor dem Kanzleramt protestieren. Gleichzeitig wird unsere Demokratie bedroht, Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft, die auf die Straßen gehen, um unsere Demokratie zu verteidigen und gegen Rechtsextremismus einzutreten.
Und, auch wenn wir es verdrängen: steht die Menschheit vor einer vielleicht noch größeren Bedrohung: der Klimakrise. Eine Krise, die unaufhaltsam voranschreitet und uns vor die dringende Aufgabe stellt, jetzt zu handeln, um die Zukunft unseres Planeten zu sichern.
All diese Ereignisse stellen uns vor entscheidende Fragen: Wo gehen wir als Land hin? Welche Regierung brauchen wir, um durch diese ungewissen Zeiten unser Land zu steuern? Wie gestalten wir die Reise unseres Landes in eine Zukunft?
Israels 40-jährige Wüstenwanderung
Mit diesen Fragen im Hinterkopf lese ich den Predigttext für den heutigen Sonntag Reminiszere, der schon in seinem Namen an Gottes Treue und Barmherzigkeit erinnert. Diese spiegeln sich besonders in seinem Verhältnis zum Volk Israel wider.
Das von Ägypten versklavte Volk brach auf, um frei zu werden und ins gelobte Land zu gelangen – eine Reise, die als die Exodus-Geschichte bekannt ist. Zwischen dem Exodus und dem Einzug ins gelobte Land lag eine 40-jährige Wanderung durch die Wüste, die mit zahlreichen Herausforderungen verbunden war.
Die gesamte Zeit in der Wüste lässt sich als eine Geschichte von Prüfungen und Beschwerden betrachten, in der die Beziehungen zwischen Mose, Gott und den Israeliten immer wieder auf die Probe gestellt werden. Die Israeliten beklagten sich, mal mehr, mal weniger verständlicherweise, über die Bedingungen ihres Lebens in der Wüste am Rande der Zivilisation.
Gott führte sein Volk nicht immer auf dem kürzesten Weg, und auch Umwege wurden von ihm gesegnet und begleitet.
Während der vierzigjährigen Wanderung durch die Wüste nach dem Auszug aus Ägypten, dem Exodus und dem Ausbruch aus der Sklaverei, sah sich das Volk Israel mit zahlreichen Krisen konfrontiert. Es gab Führungskrisen und Auflehnungen gegen den Führer Mose, eine Reblellion, eine Nahrungsmittelkrise und Wassermangel. Das Volk hinterfragte, ob der gewählte Weg der richtige sei und ob Sicherheit in Unfreiheit nicht doch die bessere Option darstelle.
Bevor unser für heute vorgeschlagene Predigttext einsetzt, wird berichtet, wie die Israeliten unter einem gravierenden Wassermangel litten und deswegen in Streit mit Mose geriten. Mose und sein Bruder Aaron wurden von Gott zurechtgewiesen und in ihrer Führungsrollen beschnitten.
Und nun erzählt unser Predigttext von einer Schlangenkatastrophe, die eine weitere Prüfung für das Volk darstellte.
Mose richtet die eherne (Bronze-/Kupfererz-)Schlange auf: Mose 21
4 Da brachen sie auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege
Numeri 21, 4-9
5 und redete wider Gott und wider Mose: Warum habt ihr uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise.
6 Da sandte der Herr feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben.
7 Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider den Herrn und wider dich geredet haben. Bitte den Herrn, dass er die Schlangen von uns nehme. Und Mose bat für das Volk.
8 Da sprach der Herr zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben.
9 Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.
Das Volk murrt und lehnt sich gegen Gott und Mose auf. Die Folge sind eine Plage mit Feuerschlangen, die Tod bringen. Trotz des Verlusts seiner Autorität wurde Mose erneut darum gebeten, für das Volk Fürbitte zu leisten. Er kam dieser Bitte nach und betete für die Israeliten, wie er es schon in der Vergangenheit getan hatte, und Gott leistet Hilfe gegen die tötlichen Feuerschlagen, von denen ein Ausleger vermutet, dass diese wohl Kobras gewesen sein könnten.
Gott heilt in dieser Geschichte nicht auf eine einfache oder direkte Weise. Stattdessen – wie an anderen Stellen auf der Wanderung durch die Wüste auch – tun sie Buße und erkennen: „Wir haben gesündigt.“ In der Konfrontation mit den feurigen Schlangen finden Mose und die Israeliten zusammen und bilden eine Gebetsgemeinschaft. Diese Gemeinschaft und das Eingeständnis ihrer Schuld durch die Israeliten ermöglichen erst Moses Fürbitte und leiten damit die göttliche Heilung ein. Gott nutzt diesen Moment der Reue, um sich seiner Barmherzigkeit zu erinnern und seine Macht und Treue vor Augen zu führen, trotz allem Geschehenen. Die Heilung wird zwar letztendlich möglich, aber sie erfolgt nicht unmittelbar für die gesamte Gemeinschaft. Sie hängt vielmehr von der Reue der Gruppe und der Fürsprache Moses ab. Die Heilung findet bei den Einzelnen statt, als Reaktion auf ihren Blick auf die Bronzefigur einer Schlange, die Gott als Mittel zur Heilung bereitstellt.
Hiskias Reform
Vielleicht haben Sie gespürt, dass ich etwas Unbehagen mit dem Predigttext habe, denn er kann leicht so gelesen werden, als ob die Bronze-Schlage quasi magisch zur Heilung führt.
Und auch dieses Verständnis hat es in der Geschichte Israels gegeben, dass sie Schlangenfigur aus Bronze selbst als Heilmittel angesehen und verehrt wurde. Deshalb geht auch der judäische König Hiskia (725 v. Chr. bis 696 v. Chr) in seiner Kultusreform gegen die Schlagenfigur vor.
In der Antike gibt es zahlreiche Erzählungen, in denen Schlangen als Retter oder Heilmittel auftreten. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Äskulap-Stab, ein Symbol, das sich bei uns heute noch im Symbol für Apotheken findet. Die Geschichte der von Mose errichteten Schlange verknüpft sich mit Traditionen, die im Widerspruch zum Glauben Israels an den einen Gott stehen.
König Hiskia nahm deshalb tiefgreifende Reformen vor. Im Zuge dieser Reformen zerstörte er die Schlange, die Mose einst gemacht hatte:
Im dritten Jahr Hoscheas, des Sohnes Elas, des Königs von Israel, wurde Hiskia König, der Sohn des Ahas, des Königs von Juda. Und er tat, was dem Herrn wohlgefiel, ganz wie sein Vater David.
Er entfernte die Höhen und zerbrach die Steinmale und hieb die Aschera um und zerschlug die eherne Schlange, die Mose gemacht hatte. Denn bis zu dieser Zeit hatten ihr die Israeliten geräuchert, und man nannte sie Nehuschtan.
2. König 18,1+3-4
Um dem Volk die Wertlosigkeit der Schlangenfigur vor Augen zu führen, nannte Hiskia sie verächtlich “Nehuschtan”, was so viel bedeutet wie “ein bloßes Stück Bronze”. Durch diese Zerstörung der Schlangenfigur wollte Hiskia die ausschließliche Verehrung Gottes im Tempel fördern und zum Ausdruck bringen, dass allein Gott Heil und Rettung bringt.
Erhöhung Jesu im Johannes-Evangelium
Die Geschichte von der Schlange wird auch im Neuen Testament aufgegriffen. Das Johannes-Evangelium berichtet, wie Jesus mit dem Priester Nikodemus spricht und dabei auf die Geschichte als Analogie verwendet:
Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.
Joh 3,14–15
Die Heilung, welche die Israeliten durch den Blick auf die Schlange fanden, steht bildhaft für das Heil, das Jesus durch seinen Tod am Kreuz, also ebenso „erhöht“ an einem Holz hängend, erwirkt hat. Ebenso wie bei König Hiskia und seiner Reform so ist auch bei der Verwendung der Schlange als Beispiel im Johannes-Evangelium klar: das Heil kommt von Gott her, nicht einer Schlange. Und das Johannes-Evangelium bezieht dieses Heil, das von Gott kommt auf Jesus.
Wer glaubt, erfährt Heil und Heilung, wenn er auf den Gekreuzigten blickt wie die Israeliten auf die Schlange.
Nur eine kurze Randnotiz: In der Kunst findet sich aus diesem Grund immer wieder die Darstellung eines Kreuzes mit einer Schlange, diese Darstellungen verweisen eben auf diesen Zusammenhang, den das Johannesevangelium darstellt.
Der englische Prediger Charles Haddon Spurgeon greift einen ähnlichen Gedanken auch in einer seiner Predigten zu Johannes 3,141 auf. Viele Prediger würden die Geschichte mit der Bronze-Schlange anstößig finden und sie weich spülen. Aber sei das Evangelium von Jesus Christus nicht genauso anstößig, dass Heil allein vom Glauben an den kommt, der für uns am Kreuz gestorben ist?
Etwas pointierter ausgedrückt: So absurd es erscheinen mag, dass eine Schlange Heilung bringen kann, so ist es auch mit dem Glauben an Jesus. Die Vorstellung, dass Gott Mensch wurde, für uns starb und uns dadurch das Heil schenkt, erscheint ebenso unvorstellbar. Dieses Heil gilt jedoch für alle, die daran glauben.
Zu Beginn der Predigt habe ich unsere heutige Situation beschrieben und sie mit der Wüstenwanderung des Volkes Israel verglichen. In unserem Predigttext hat das Bußetun und der Blick auf die Schlange das Unheil vom Volk abgewendet. Die Geschichte des Gottesvolkes setzte sich fort, und nach vierzig Jahren in der Wüste erreichte es das gelobte Land.
Niemand weiß, wie lange die Krisen in unserem Land und in unserer Gesellschaft noch andauern werden. Doch wir können die Erzählung der Wüstenzeit Israels auch auf unsere Situation anwenden: Auch wir können unseren Blick neu ausrichten – nicht auf eine Schlange, sondern auf Jesus. Indem wir uns als Einzelne an dem orientieren, wofür Jesus steht, und versuchen, dies in alle Bereiche unseres Lebens zu übertragen – in unsere Familien, aber auch in unsere Nachbarschaft und Gesellschaft –, dürfen und können wir hoffen, dass Gott uns ebenfalls durch die Krisen führt.
Amen.
1 Zur Predigtvorbereitung: Num 21,4–9 25.2.2024 Reminiszere, Dr. Ferenc Herzig, Göttinger Predigtmeditationen 2024, 78:2, 173-178
2 https://www.spurgeon.org/resource-library/sermons/the-mysteries-of-the-brazen-serpent/#flipbook/