Predigt in der Lutherkirche in Mülheim-Speldorf am 19.3.2023 (Sonntag Lätare) über Jesaja 54,7-10
Liebe Gemeinde,
lassen Sie mich mit einer kleinen Geschichte einsteigen:
In einer sonnigen Frühlingsnacht hatte Sarah gerade einen wundervollen Abend mit Alex verbracht. Sie hatten gemeinsam in einem gemütlichen Restaurant gespeist und sich stundenlang in Gesprächen verloren. Die Chemie zwischen ihnen war offensichtlich und Sarah war begeistert von Alex’ Intelligenz, seinem Humor und seiner Stärke. Als sie sich schließlich verabschiedeten und sich umarmten, spürte Sarah, wie ihr Herz schneller schlug. Sie war sicher, dass sie Alex bald wiedersehen würde.
Doch dann ereignete sich etwas Seltsames. Alex antwortete nicht mehr auf Sarahs Nachrichten und Anrufe. Sarah wartete und wartete, doch es kam keine Antwort. Sie fragte sich, ob sie etwas Falsches gesagt oder getan hatte oder ob er einfach zu beschäftigt war.
Die Tage verstrichen und Sarah hörte immer noch nichts von Alex. Schließlich beschloss sie, ihn auf Social Media zu suchen, aber er war wie verschwunden. Es war, als ob er sich in Luft aufgelöst hätte. Er ignorierte alle ihre Nachrichten.
Sarah begann, ihre Gedanken zu überdenken und fragte sich, ob sie etwas falsch gemacht hatte. Vielleicht war sie nicht attraktiv genug oder nicht interessant genug für Alex? Die Zweifel in ihrem Kopf wuchsen, je länger sie darüber nachdachte. Vielleicht war Alex einfach nur beschäftigt oder er war nicht der Mann, für den er sich ausgegeben hatte?
Je länger sie nichts von ihm hörte, desto mehr zog sich Sarah zurück und verbrachte ihre Tage damit, sich zu fragen, was passiert war. Sie war enttäuscht und verletzt. Sie hatte gedacht, dass sie eine Verbindung mit Alex hatte, aber jetzt fühlte sie sich einfach nur unverstanden und allein gelassen.
Schließlich musste Sarah sich eingestehen, dass sie nichts mehr tun konnte, als zu warten und zu hoffen, dass Alex sich bald wieder bei ihr melden würde. Aber würde er es tun? Oder würde sie niemals eine Erklärung dafür erhalten, warum er sie einfach ignoriert hatte?
Sarah war verzweifelt, denn sie hatte gehofft, dass diese Verbindung etwas Besonderes war, etwas, das ihr Leben verändern würde. Stattdessen fühlte sie sich leer und unerfüllt.
Sie fragte sich, ob es einen Grund dafür gab, dass Alex sie einfach so ignorierte. War es etwas, das sie getan hatte oder war es einfach nur ein unglücklicher Zufall? Sarah wusste es nicht, aber die Ungewissheit quälte sie und machte sie unruhig und unglücklich.
Das was diese Geschichte erzählt, bezeichnet man als Ghosting. Es ist ein Phänomen, bei dem eine Person plötzlich den Kontakt zu einer anderen Person abbricht, ohne eine Erklärung zu geben. Die betroffene Person erhält keine Antworten auf Anrufe, Textnachrichten oder E-Mails und die sozialen Medien zeigen, dass die Person offline ist oder sie haben ihren Account gelöscht. Die Opfer des Ghostings sind oft verwirrt und verletzt, da sie keine Ahnung haben, was passiert ist oder warum die andere Person plötzlich aufgehört hat, mit ihnen zu kommunizieren. Das Phänomen ist vor allem in Beziehungen zu beobachten, aber es kann auch in anderen Kontexten wie Freundschaften oder Arbeitsbeziehungen auftreten.
Auch unser heutiger Predigttext ist eine Beziehungsgeschichte. Es geht um Gott und sein Volk. Im zweiten Teil des Jesajabuches, aus dem unser heutiger Predigttext ausgewählt ist, geht es um die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel. Sie wird als Liebesgeschichte erzählt zwischen Gott und Zion. (Und dies nur als kurze Anmerkung: Im Jesajabuches wird keine moderne gleichberechtigte Beziehung dargestellt, sondern es werden sprachliche Bilder aus der Antike verwendet.)
Bei Deuterojesaja, dem zweiten Teil des Jesajabuches im Alten Testament der Bibel, steht Zion symbolisch für Jerusalem, aber auch für das ganze Volk Israel und seine Zukunftshoffnungen. Als dieser Teil des Jesajabuches geschrieben wurde, befanden sich die Israeliten im Exil in Babylon und sehnten sich nach ihrer Heimatstadt Jerusalem, die von den Babyloniern zerstört worden war. Zion war ein Symbol für ihre verlorene Heimat und ihre Sehnsucht nach der Wiederherstellung des Tempels und des Königreichs. Deuterojesaja beschreibt Zion als den Ort, an dem Gott seine Herrschaft und Gerechtigkeit auf Erden offenbaren wird. Obwohl Zion ursprünglich ein Ort ist, wird er im zweiten Teil des Jesajabuches auch als Person gebraucht, die für das Volk Israel steht. In menschlicher Sprache reden wir von Gott. So auch im Jesajabuch. Zion wird als Frau dargestellt. Und die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk Israel wird als Geschichte zwischen Mann und Frau dargestellt. Gott umwirbt seine Jugendliebe Zion, nachdem sie lange sich in Sprachlosigkeit begegnet waren.
So hören wir den Predigttext für den heutigen Sonntag Lätare
Jesaja 54
7 Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.
8 Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser.
9 Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.
10 Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.
Vielen von uns ist vermutlich der letzte Vers des Predigttextes vertraut. Und allzu schnell beziehen wir ihn auf uns. Aber lassen Sie uns erstmal etwas genauer auf den Text hören, bevor wir ihn auf uns beziehen. Das „Du“ in Jes 54 ist eine 2. Person Femininum Singular. Es ist Frau Zion, die Stadt Jerusalem, die als Individuum personifiziert wird.
Unser Predigttext ist das Ende einer Erzählung, aber vorher heißt es (Jes 49,14):
Zion aber sprach: Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.
Gott hat sein Volk Israel verlassen. Das ist Erfahrung, die hier im Jesajabuch zum Ausdruck kommt. So heißt es eben auch in unserem Abschnitt in der Gottesrede:
7 Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen.
8 Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns [ein wenig] vor dir verborgen.
Das Volk fühlt sich von seinem Gott vergessen, Gott verbirgt sich vor seinem Volk. Diese Gottverlassenheit ist der Ausgangspunkt unseres Predigttextes.
Im babylonischen Exil fühlte sich das Volk Israel verlassen und allein gelassen von Gott. Die Verluste der Heimatstadt Jerusalem und des Tempels waren für das Volk sehr schmerzhaft und die Israeliten fühlten sich dadurch entwurzelt und heimatlos. Sie hatten den Tempel verloren. Er war ein zentraler Ort der Anbetung und des Glaubens. Er symbolisierte Gottes Gegenwart. Nun war ein großer Teil des Volkes deportiert und musste in einer fremden Umgebung leben. Sie waren von ihrer Familie, Freunden und Gemeinschaft getrennt und konnten ihre Kultur und ihre religiösen Bräuche nicht mehr frei ausüben. Dadurch fühlten sie sich isoliert und einsam. Sie waren von ihrem Gott verlassen worden.
Heute machen Menschen auf der ganzen Welt ähnliche Erfahrungen. Kriege, politische Konflikte, Naturkatastrophen oder wirtschaftliche Krisen führen dazu, dass Menschen aus ihrer Heimat vertrieben werden und in einer fremden Umgebung leben müssen. Sie sind entwurzelt, isoliert und einsam, getrennt von ihren Familien, Freunden und Gemeinschaften, sie können ihre kulturellen und religiösen Bräuche nicht mehr ausüben. Wir sehen seit nun gut einem Jahr Flüchtlinge aus der Ukraine in unseren Straßen, ihre Kinder gehen in unsere Schulen. Aber nicht nur in Euro herrscht Krieg, auch aus anderen Ländern wir Syrien, Afghanistan und Irak sind Menschen zu uns geflüchtet.
Neben Ursachen wie Krieg, Flucht oder Vertreibung gibt es auch persönliche Gründe, warum Menschen sich von Gott verlassen fühlen: Krankheit, Tod, Einsamkeit oder Hoffnungslosigkeit. Ein schwerkranker Mensch bittet um Heilung, aber seine Gebete werden nicht erhört. Ein geliebter Mensch ist gestorben und die Angehörigen verstehen nicht, warum Gott sie diese schmerzliche Erfahrung hat machen lassen. Auch schwierige Lebenssituationen oder Lebenskrisen lassen Menschen die Gottverlassenheit spüren. Wo ist Gott, warum antwortet er nicht?
Oder um den Begriff aus der Erzählung am Anfang der Predigt zu verwenden: Warum ghostet uns Gott?
Auf das Warum gibt es hier keine schnelle und einfache Antwort.
Aber: Das Jesajabuch wischt die Erfahrung von Gottverlassenheit nicht weg, es hält sie aus, es spricht sie aus:
Gott hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen.
Ja, das ist auch Wirklichkeit. Aber hier geht die Erzählung weiter:
Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.
Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser.
Ein kleine textliche Beobachtung: In der Luther-Übersetzung steht „aber“, im Hebräischen steht das Wörtchen „Waw“, dessen Grundbedeutung einfach „und“ ist. Das Aber interpretiert schon, wie sich Gottverlassenheit und das Erleben des göttlichen Eingreifens zueinander verhalten. Vielleicht lassen wir es einfach nebeneinander stehen und halten es aus, dass beide Erfahrungen nebeneinander stehen:
Ich habe mein Angesicht [im Augenblick des Zorns ein wenig] vor dir verborgen und mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser.
Es bleibt beim „und“ nur die zeitliche Abfolge: Das Einst steht gegen das Jetzt. Auf die Gottverlassenheit folgt die Gottesgegenwart. Die Gottverlassenheit dauert eine Zeit, sie wird aber auch wieder ein Ende haben, so die Hoffnung, die sich hier ausdrückt.
Gott wird sich Zion wieder in Liebe zuwenden, so die Botschaft. Gott setzt seine Schöpfermacht, seine Kraft und Stärke zugunsten seiner Jugendliebe Zion ein, so die Verheißung im Jesajabuch:
Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.
Was bedeutet das jetzt für uns? Zunächst einmal ist die Person, die in Jesaja angesprochen wird, Zion, die als Individuum personifizierte Stadt Jerusalem. Sie ist nicht identisch mit der Gruppe ihrer Bewohner:innen, aber sie repräsentiert sie trotzdem. Gott wendet sich an sie zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt und sagt ihnen sein Erbarmen, seine Gnade und seine Liebe zu. Können wir diese Zusicherung auch auf uns beziehen? Wer ist das „Du“, wenn wir diese Ermutigung annehmen? Die Gemeinschaft als Gruppe? Jede einzelne Person von uns? Kann ich mich im „Du“ wiederfinden und mich persönlich angesprochen fühlen? Gilt diese Ermutigung auch für mich persönlich?
Die Tatsache, dass diese Heilsworte Eingang in die Hebräische Bibel gefunden haben, zeigt, dass das Volk Israel diese Worte nicht nur in einem konkreten historischen Kontext verstanden hat, sondern sie auch auf seine Geschichte und Zukunft bezogen hat.
Diese Worte haben aber noch einen weiter gefassten Geltungsrahmen. Es geht nicht nur um eine Liebesgeschichte zwischen Gott und Zion, sondern die ganze Welt ist einbezogen:
Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser [Noahs] nicht mehr über die Erde gehen sollten.
Dieser Bund Gottes mit Noah umfasst die ganze Schöpfung und, als Teil von ihr, die gesamte Menschheit – also auch mich. Die Erinnerung an diesen Friedensbund, gilt damit auch mir: Gott ist auch mein Erbarmer.
Die Zeit der Gottesferne – das Exil Israels in Babylon – dauerte nicht ewig, sie war begrenzt, Gott hat sich wieder seinem Volk zugewendet. Wir leben in einer Zeit, wo es leicht ist, sich von Gott verlassen zu fühlen. Krieg, die atomare Bedrohung, Existenzangst gehören wieder zu unserer Wirklichkeit. Wir brauchen diese Wirklichkeit nicht zu verleugnen. Uns können dabei durchaus die Gedanken kommen, Gott hat uns verlassen. Und auch im Persönlichen gibt es immer wieder Zeiten der Gottverlassenheit. Dann ist es gut, dass wir uns erinnern, jeder und jede für sich allein und auch wir als Gemeinde:
Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.
Amen.